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Einleitung

"Auf der Flucht getrennt"

Auf der Flucht getrennt
Die Odyssee einer ruandischen Familie

Einleitung


Auf der Flucht getrennt erzählt die Geschichte von Joséphine Niyikiza und Désiré Nsanzineza: ihre Kindheit in Ruanda, ihre Flucht vor dem Völkermord quer durch mehrere kriegsgeschundene Länder Afrikas und ihr neues Leben in der Schweiz. Das Buch ist in enger Zusammenarbeit zwischen ihnen und mir entstanden: Während eines Jahres haben sie mir ihre Erinnerungen anvertraut, und ich habe sie in die vorliegende Form gebracht. Wir haben uns über ihre ganz persönlichen Erlebnisse ausgetauscht, haben diskutiert und an Formulierungen gefeilt, wie wenn wir einander schon seit Jahren gut gekannt hätten. Doch in Wahrheit hat uns erst dieses Projekt zusammengeführt: Sie erzählten einem Freund, dass sie jemand suchten, der ihre Geschichte aufschreiben und daraus ein Buch machen könnte, da ihre eigenen Deutschkenntnisse nicht ausreichten. Und ich vertraute demselben Freund an, ich würde nach der bevorstehenden Publikation meines Buches «Augenmenschen» ganz gern ein neues Projekt in Angriff nehmen. «Da wüsste ich vielleicht etwas», meinte unser gemeinsamer Bekannter und fasste die Geschichte der ruandischen Flüchtlingsfamilie zusammen. Bald darauf begegnete ich beim Einkaufen seiner Frau, die gerade mit Joséphine plauderte. Sie stellte uns einander vor, und Joséphines Funke sprang auf mich über. Diesem Freund und seiner Frau möchte ich an dieser Stelle meinen Dank ausdrücken.
Mein Eintauchen in Ruandas Geschichte war ein Sprung ins kalte Wasser: Ich kannte sie ja kaum und wusste nur so viel, wie in meiner Zeitung darüber berichtet worden war. Zwar wurde der Völkermord in Ruanda im Frühling 2014 von den Medien noch einmal aufgegriffen, da seither zwanzig Jahre vergangen waren, aber solche Analysen vergangener Geschehnisse, und wenn diese noch so tragisch sind, müssen bekanntlich schnell wieder aktuellen Themen weichen. Ich hingegen konnte nicht mehr wegsehen. Ich vertiefte mich in Sachliteratur über Ruanda und las Romane, die sich mit dem Völkermord auseinandersetzen, damit ich Joséphine und Désirés Schilderungen besser einordnen könne. So füllte sich Ruanda plötzlich mit Menschen und ihren Schicksalen. Eine Welle von Bildern der schrecklichen Vorkommnisse erfasste mich, und ich musste lernen, den Kopf über Wasser zu halten. Wie mochte es erst Désiré und Joséphine ergehen, die Opfer dieser Geschehnisse wurden und sie beim Erzählen noch einmal durchleben mussten? Vor allem Désiré hatte seit seiner Einreise in die Schweiz nie Zeit und Musse gehabt, das Erlebte aufzuarbeiten. Deshalb stiess das forcierte Erinnern und Schildern der zum Teil traumatischen Erlebnisse einen sehr schmerzhaften und kraftraubenden Prozess an. Aber auch Joséphine, die während der Arbeit an Auf der Flucht getrennt ihre Ausbildung als FaGe, als Fachfrau für Gesundheit, abschloss, erreichte manchmal ihre Grenzen. Wie sie all ihre Verpflichtungen als Hausfrau und Mutter, als Altenpflegerin und als Lernende unter einen Hut brachte und nach wie vor bringt, ist mir ein Rätsel.
Die Erarbeitung eines Buches ist ein kreativer Prozess. Erst nach und nach, während des Schreibens, hat sich für Auf der Flucht getrennt eine passende Form ergeben. Es kam mir zuweilen so vor, als würden Joséphine, Désiré und ich Plätzchen für eine Patchworkdecke stricken, grössere und kleinere, glatte und gemusterte, ein- und verschiedenfarbige. Mal musste ich eines wieder aufziehen, etwa wenn ein bereits aufgezeichnetes Erlebnis doch besser unerwähnt bleiben sollte, da es Ängste auslöste oder die Ehre zu verletzen schien. Mal musste ich das Strickmuster ändern, zum Beispiel wenn unterschiedliche Sichtweisen aufeinanderprallten, mal Löcher stopfen, weil Erinnerungslücken bestanden oder ein Zusammenhang fehlte. Das eine Plätzchen musste vergrössert, das andere verkleinert werden, damit der zeitliche Ablauf auch wirklich stimmte, und ich vernähte viele Fäden, da nicht nur eine Person die Geschichte erzählte. Am meisten zu schaffen aber machte mir die Spannung, ob die Plätzchen nach dem Zusammenhäkeln überhaupt eine Decke ergeben würden, die sowohl Joséphine und Désiré als auch mir gefiel. Noch während der Überarbeitung des Manuskripts war ich mir nicht sicher, ob es so je publiziert werden könnte.
Zudem wurde mir erst während des Aufzeichnens der Geschichte dieser Familie und vor allem beim Redigieren bewusst, dass es unterschiedliche Erzählkulturen gibt. Die Richtigkeit aller Details und des zeitlichen Ablaufs eines Berichts ist für mich zentral. Wenn er mir nicht ganz stimmig scheint, werde ich misstrauisch und beginne nachzurechnen und zu recherchieren. Ist die Glaubwürdigkeit aber erst einmal angekratzt, so fällt es mir schwer, unvoreingenommen der Geschichte zu folgen, insbesondere wenn sie sehr farbig geschildert wird. Die afrikanische Erzählkultur hingegen mag der Stimmigkeit eines jeden Details beziehungsweise dem Ausschmücken der Erlebnisse einen anderen Stellenwert beimessen.
Auch die Sprache bei den Interviews stellte uns vor eine Herausforderung. Joséphine erzählte ihre Geschichte zwar auf Deutsch, das sie nach zehn Jahren in der Schweiz recht flüssig spricht, aber das schriftliche Formulieren ihrer Schilderungen blieb mir überlassen. Wörtlich wiedergegebene Sätze sind in ihren Kapiteln daher kaum zu finden. Mit Désiré unterhielt ich mich in Französisch, da sein deutscher Wortschatz noch zu eingeschränkt ist, als dass er frei von der Leber weg hätte berichten können. Das heisst, seine Kapitel basieren auf Übersetzungen. Das bedeutet aber auch, dass er die Texte in einer Fremdsprache gegenlesen musste.
Die Herausforderungen waren jedoch nicht allein sprachlicher Art. Wenn wir unsere Lebensgeschichte erzählen, müssen wir uns auf unser Gedächtnis verlassen. Dieses kann uns aber manchmal einen Streich spielen und die Erinnerungen umformen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Ebenso beeinflusst auch die Psyche die Erinnerungen, die wir abrufen möchten. Nicht immer lässt sie es zu, dass ein besonders belastendes Erlebnis wieder ins Bewusstsein dringt, oder sie deutet es um, um uns zu schützen. Das ist gut so. Ein Buchprojekt ist schliesslich keine Traumatherapie. Wenn ich also spürte, dass das Erzählen gewisser Geschehnisse Joséphine oder Désiré zu sehr aufwühlte, dass die Erinnerung daran Ängste oder Schuldgefühle weckt, bohrte ich nicht weiter. Habe ich denn, haben die Leserinnen und Leser von Auf der Flucht getrennt ein Recht darauf, jede Einzelheit der Flucht zu erfahren? Ich denke nicht.
Die meisten Kapitel des Buches basieren auf Interviews, die ich entweder mit Joséphine oder mit Désiré führte. Diejenigen, in denen Joséphine als Ich-Erzählerin fungiert, werden ergänzt durch Kommentare, die Désiré machte, nachdem er die Texte gelesen hatte – und umgekehrt. Nur beim Gespräch, das dem Kapitel Vereint in der Schweiz zugrunde liegt, waren beide anwesend, während das Kapitel Die Familie Nsanzineza-Niyikiza im Jahr 2015 meine Sicht wiedergibt. Joséphine, Désiré und ich haben während eines Jahres intensiv zusammengearbeitet. Das verbindet, und es ist zwischen uns eine tiefe Beziehung gewachsen. Ich möchte mich bei ihnen bedanken für ihr grosses Vertrauen zu mir und für alles, was ich mit ihnen erleben und von ihnen lernen durfte.

Johanna Krapf


 
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